Trost, trösten oder ver-trösten?

 

Mein Leben als Priester und Seelsorger war über vierzig Jahre geprägt vom Dienst an Kranken, Sterbenden und anderen Notleidenden. Da liegt verständlicherweise der Gedanke nahe, mich in Sachen Trost und Trösten sozusagen als Spezialisten zu sehen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Trösten, echt trösten, ist eine äußerst heikle Angelegenheit und verlangt nicht nur Geschick und Einfühlungsvermögen im Umgang mit belasteten Menschen, sondern ebenso die innere Bereitschaft des Trostbedürftigen für Antworten, die ihm angeboten werden. Das können wohlbedachte Worte sein, aber mehr noch Gesten und Verhaltensweisen, die den Betroffenen spüren lassen, der „Tröster“ ist ehrlich und vorurteilsfrei ganz bei mir. Ich will an einem Beispiel zeigen, was einmal zum Schlüsselerlebnis meiner spezifischen Aufgabe wurde.

 

Eine Frau wollte sich bei mir für den Beistand bedanken, den sie vor Jahren bekam, als sie kurz hintereinander Mann und Kind durch einen tragischen Unfall verlor. In einem Brief schrieb sie unter anderem: „Und wissen Sie, was mich damals wirklich getröstet hat – Sie saßen stumm neben mir und haben kein einziges Wort gesagt. Aber ich spürte zutiefst, dass Sie auch inwendig ganz bei mir waren und mich in meiner Not verstanden haben.“

 

Ein Schlüsselerlebnis war das für mich, es muss aber schon vorher in mir angelegt gewesen sein und noch vertieft in zahlreichen psychologischen Fortbildungen. Diese wären allen Professionellen zu empfehlen; und auch den nicht berufsmäßigen „Tröstern“ müsste klar sein, dass sie einem bedrückten Menschen weniger mit Worten als durch Gesten bzw. ihr Verhalten beistehen können. Oft hilft schon die bloße Nähe eines vertrauten Menschen, ein aufrichtiger Händedruck, eine stille Umarmung und ähnliche Gesten, in denen der Notleidende spürt, dass er mit seinem Schicksal nicht allein ist und sich von seiner Umwelt angenommen weiß.

 

Auf einen kurzen Nenner gebracht, könnte die Grundeinstellung hier lauten: Das richtige Wort und die geeignete Geste zur richtigen Zeit. Das ist wohl auch der Sinn bei den so genannten sieben Werken der Barmherzigkeit und ihrer Aufforderung „Trauernde trösten“. Dass es nicht selbstverständlich ist und eine gewisse Einschränkung des Eigenanspruchs fordert, braucht nicht betont zu werden und müsste für uns Christen auch nicht im Tugendkatalog stehen, hat also mit dem Hauptgebot, der christlichen Liebe, zu tun. Die Frage drängt sich auf:

 

Wer braucht den Trost?

 

Zu gegebener Zeit brauchen wir alle einen Trost, der uns in Notlagen aufrichtet. Es wäre falscher und manchmal folgenschwerer Stolz, ihn auszuschlagen, weil man selber damit fertig werden will. Das geht nicht immer gut und kommt irgendwie dem sprichwörtlichen Versuch gleich, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Es ist doch keine Schande, in Not oder Bedrängnis zu geraten, Situationen, in denen Trost und Ermunterung wie warmer Regen auf das gequälte Gemüt fallen. Und Trauer und Traurigkeit sind nun einmal fester Bestand unseres Lebens, ebenso wie Glück und Freude.

 

Der häufigste Grund zu Trauer und Trostbedürftigkeit ist wohl die Krankheit und der Todesfall. Man wird es daher einem ehemaligen Krankenhausseelsorger nachsehen, wenn er den Schwerpunkt seiner Überlegungen zum Thema Trost und Trösten auf diesen speziellen Fall verlegt.

 

Der Verlust eines Menschen, mit dem man vielleicht den größten Teil seines Lebens verbracht hat oder zu dem sonst eine engere Verbindung bestand, wirkt zunächst wie ein Schock, der alle seelischen Kräfte lähmt. Darüber sollte sich eigentlich niemand wundern, weil der Tod auch im engeren Familien- und Verwandtenkreis ständig seine Spuren hinterlässt: Ein Elternteil ist vielleicht schon vorausgegangen, ein Freund und Vertrauter kam plötzlich und unerwartet ums Leben und wie sich Todesfälle sonst zutragen.

 

Die Reaktion auf solches Leid ist nicht einheitlich, wobei Frauen allgemein eine größere Sensibilität nachgesagt wird als Männern. Ein Dogma ist das nicht. Nur oberflächlich betrachtet, scheinen zwischen der Trauer von Frauen und Männern Welten zu liegen. „Ein Junge weint nicht“, hat man uns in frühen Jahren eingebläut. Und wenn Tränen einer Frau zuweilen Männer aus der Fassung bringen, soll das (zumindest heute) niemand mehr gering schätzend als typisches Merkmal des „schwachen Geschlechts“ bewerten. Wenn Männer seltener oder gar nicht weinen, ist das in aller Regel nur das Unvermögen, unter der seelischen Belastung ein geeignetes Ventil zu finden. Dadurch kommt es nicht selten zu innerer Verkrampfung, die nach außen als Härte und Gefühlskälte wahrgenommen wird und einen Keil des Missverständnissees zwischen die Geschlechter treibt.

 

An einen Fall erinnere ich mich, wo die Ehe fast in Brüche zu gehen drohte. Die Eltern hatten kurz zuvor durch einen Verkehrsunfall ihren ältesten Sohn verloren, den sein Vater fest als Geschäftsnachfolger im Auge hatte. Vielleicht fühlte er sich deshalb besonders betroffen, konnte oder wollte aber mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit der eigenen Frau, und wenn, dann nur mit bitteren Vorwürfen: Hättest du, hättest du nicht usw. Nach Geschäftsschluss kam er stets nur kurz nach Hause und ging dann zur Ablenkung in irgendeine Kneippe, wo er oft bis tief in die Nacht blieb. Und weil sie nicht mehr miteinander reden konnten, stand auch die Ehe auf der Kippe.

 

Aus heutiger Sicht kann ich es nur als Glücksfall empfinden, dass die besagte Frau wegen einer läppischen Mandelentzündung kurz im Krankenhaus behandelt werden musste. Einen Tag vor ihrer Entlassung trug sie mir die familiäre Situation vor und hatte Angst, im „Eiskeller des Schweigens“ zu erfrieren, wie sie sagte. Ich fühlte mich hier überfordert, weil dieser „Knoten“ nicht mit einem einmaligen Gespräch zu lösen war, sondern sie über längere Zeit fachkundig begleitet werden mussten. So vermittelte ich einen erfahrenen Eheberater, der die Angelegenheit hoffentlich zu einem guten Ende führen konnte. Glücklicher wäre der Fall sicher verlaufen, hätte sich der seelisch zutiefst getroffene Vater nicht so radikal eingeigelt, sondern sich im Gespräch geöffnet für den Trost, der für ihn nur von außen kommen konnte.

 

Nebenbei bemerkt, kann jemand so unmittelbar nach dem tragischen Geschehen überhaupt schwer Trost annehmen. Solange jemand noch unter dem Schock eines Schicksalsschlags steht, ist er für Trost kaum empfänglich, auch nicht für den aus dem Glauben. Erst nach einer gewissen Zeit, wenn sich der Schmerz einigermaßen gelegt hat, kann er sich öffnen für aufmunternde Worte und Gesten, die ehrlich und bescheiden an ihn herangetragen werden.

 

Ein Wort zum Weinen sei mir noch gestattet. „Weinen Sie sich ruhig aus und lassen Sie ihren Tränen freien Lauf; das ist keine Schande und erleichtert das bedrückte Herz“, habe ich einmal von einer Psychologin gehört, die damit ihre Patientin „trösten“ oder, besser gesagt, ermuntern wollte. Das läuft scheinbar auf dasselbe hinaus, hat aber einen verfänglichen Hintergrund. Obwohl uns Todesanzeigen so vertraut sind wie der Kirchgang am Sonntag, zeigen sie dennoch einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Menschen sterben heutzutage nicht mehr in der gläubigen Zuversicht wie in früheren Zeiten und trauern auch anders. Ja, es scheint Männer wie Frauen in Verlegenheit zu bringen, wenn sie ihre Trauer öffentlich zeigen sollen. „In aller Stille beigesetzt“, heißt es dann in der nachträglichen Todesanzeige oder „Bitte keine Beileidsbekundungen am Grab“ und ähnliche Formulierungen. Das heißt doch so viel wie: Abstand, nicht Beistand ist erwünscht!

 

Wie tröstlich registrieren wir dagegen, wenn viele aus der Gemeinde an der Beerdigung teilnehmen, eine „große Leich“ also, wie wir Oberpfälzer sagen, die sowohl als Gradmesser der Beliebtheit des Verstorbenen wie auch als sichtbarer Ausdruck der Anteilnahme den Angehörigen gegenüber gewertet wird. Wo dieser soziale Verbund verdrängt wird, werden Trauer und Trost zur privaten Angelegenheit umgemünzt, und für den Rest muss jeder selber sorgen. Damit berauben wir uns aber der tragenden Kraft, die von einer Gemeinschaft ausgeht, mit der wir auch sonst unser Leben teilen und auf die wir sogar existenziell verwiesen sind. Das nicht zu bedenken, wäre meines Erachtens inhuman und einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig.

 

Wer kann Trost spenden?

 

Von vornherein scheidet aus, wer mit der Not anderer Menschen nicht umzugehen weiß und ihr darum hilflos gegenübersteht, oder wer mit eigenen Sorgen und Nöten überfrachtet ist. In der ersten Reihe wird man allgemein den Seelsorger vermuten, vor allem im Hinblick auf Sterben und Tod – aber weit gefehlt! Denn ganz vorne fungieren andere Tröster, sofern man sie überhaupt als solche bezeichnen will. Ihr Vokabular ließe sich wie eine Litanei hersagen, aus der wir vielleicht selber schon gebetet haben: aus Gedankenlosigkeit und Unvermögen. Und was sagen wir dann?

 

„Das Leben muss doch weitergehen.“

„Es war doch das Beste für ihn.“

„Reiß dich zusammen!“

„Du musst jetzt nach vorne schauen.“

„Die Zeit heilt Wunden.“

„Weinen hilft dir auch nicht weiter.“

„Das alles hätte noch schlimmer kommen können.“

Bis zu der ausgewachsenen Plattheit „Kopf hoch, alter Junge!“

 

So und ähnlich haben wir es alle schon gehört und als Unbeteiligte vielleicht auch selber gesprochen. Geholfen hat das kaum jemandem. Und stellen wir uns konkret Folgendes vor: Eine Frau bekommt ihr erstes, heiß ersehntes Kind und muss gleich nach der Geburt erkennen, dass es zeitlebens behindert sein wird. Wie sehr wäre in dieser Lage der Trost eines mitfühlenden Menschen notwendig, statt mit Floskeln und Sprüchen aufzuwarten, mit denen sich niemand abfinden kann und die sogar als glatte Beleidigung empfunden werden. Hier wäre Reden nicht einmal „Silber“, wie es sprichwörtlich heißt, nur das „Schweigen“ könnte sich als Gold erweisen.

 

Jetzt könnten wir ja den Pfarrer aus der zweiten Reihe in den Zeugenstand rufen. Er muss redlicherweise auch zur Sprache kommen, weil er in den elementarsten Notlagen, nämlich in Krankheit und Tod zumindest einen respektablen Trost anzubieten hat. Erstrangig ist dabei nicht, was er zu bieten hat, sondern wie er es in den unterschiedlichsten Situationen vermitteln kann. Und hier zieht er sich zunächst einmal diskret zurück. Sein Trost steht bei vielen nicht hoch im Kurs. Liturgische Formeln und leichtfertig verabreichte Bibelsprüche haben seinen Trost in Misskredit gebracht. Dazu eine sattsam bekannte Erfahrung: Wenn der Seelsorger in ernster Lage auftaucht, sind die Betroffenen schnell beunruhigt, und oft kommt spontan die Frage: „Ist es denn schon so weit, Herr Pfarrer?“ Deshalb rufen ihn Angehörige erst, wenn der Sterbende „nichts mehr merkt“. Diese Art, den Tod zu vertuschen, ist wenig hilfreich und kein Sterbetrost, der des Menschen würdig ist. Nicht selten kommt es zu der paradoxen Situation, dass der Sterbende um sein Schicksal weiß, offen mit dem Seelsorger darüber spricht und dann hinzufügt: „Aber sagen Sie das nicht meinen Angehörigen; die wollen das absolut nicht hören.“ Eine tragische Posse würde ich das nennen.

 

Hier wird überdeutlich, dass Trostspenden in ernster Lage eine schwierige Aufgabe ist und eine innere Disposition auf beiden Seiten fordert. Auch der Gläubige tut sich hier schwer. Oft hat es mich auch gewundert, wie evangelische Christen aus einem bloßen Bibelwort echten Trost schöpfen. Das ist kein Wortfetischismus, es muss von einer engen Verbundenheit mit ihrem Herrn Jesus herrühren. Darauf gründet nicht weniger die Tröstung aus dem Glauben für den katholisch geprägten Christen, wenn er seinen Glauben verinnerlicht hat und nach Kräften daraus lebt.

 

Das war schon im Alten Testament ähnlich. Gott war für sie ein Gott der Lebenden (der ihnen zu Lebzeiten nahe ist). Erst nach und nach setzte sich die Gewissheit durch, dass der „Gott des Lebens“ nicht nur hier und jetzt an ihrer Seite ist, sondern auch im Tod zu uns steht.

 

Im Neuen Testament wird die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod noch überhöht durch das Leben Jesu und die Botschaft, die in seinem unergründlich tiefen Wort gipfelt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben“ (Joh 11,25). Darauf zu bauen und daraus zu leben wird von Außenstehenden mit Vorliebe und überheblich als unredliche Vertröstung abgetan. Aus ihrer Sicht verständlich. Was der Schöpfer in uns hineingelegt hat, übersteigt menschliches Erkennungsvermögen haushoch. Es muss uns gesagt werden – und wird uns auch gesagt in dem Mensch gewordenen Wort Gottes: Jesus Christus. In dieser Dichte ist es natürlich auch Glaubensbereiten nicht leicht zu vermitteln, und nur ganz selten habe ich mich mit Sterbenden auf dieser Ebene getroffen. Wo es aber gelang, kam mir spontan das Psalmwort in den Sinn: „Kostbar ist in den Augen des Herrn das Sterben seiner Frommen“ (Ps 116,15). Das ist der Trost, den uns der christliche Glaube schenkt und sonst niemand und nichts.

 

Bei einem Krankenbesuch habe ich einmal behutsam herauszufinden versucht, wo der Patient religiös stand. Im Dritten Reich aufgewachsen, war er praktisch „nix.“ Er fügte aber hinzu: „Sollte ich mich je für eine Religion entscheiden, dann nur für die christliche. Sie ist die einzige, die Leid und Elend der Menschen nicht ausklammert.“ Der Mann hatte vom Christentum mehr verstanden als mancher Kirchgänger. Er ist an der Wurzel des christlichen Glaubens angekommen, der seine ganze Kraft aus Kreuz und Auferstehung des Herrn bezieht. Im Grunde genommen ist der Glaube der einzige Trost unseres irdischen Daseins. Überflüssig zu sagen, dass er es nicht nur ist in Krankheit und Tod, sondern für alle traurigen Ereignisse und bedrückenden Zustände, die zeitweilig unser Leben arg belasten. Dieser Trost kann freilich nicht die Trauer ganz wegnehmen, sie aber erträglicher machen, uns in der Nachfolge Christi ermuntern und im Glauben reifen lassen.

 

P. Albert Vetter CMF